Humoreske von B.W.Zell
in: „Emscher Zeitung” vom 17.4.1896
„Lina — die Fenster im Erker müssen heute geputzt werden!”
„Ja wohl, gnädige Frau. Ich werde sofort daran gehen.”
Als Frau Peters eine Stunde später zufällig in's Erkerzimmer kommt, sieht sie die Scheiben noch unberührt und von Lina keine Spur. Sofort eilt sie zur Gesindestube, die sie verschlossen findet.
„Lina!”
„Ja wohl?”
„Ich denke, Sie putzen Feuster?”
„Muß mich doch erst dazu anziehen, gnädige Frau!”
Frau Peters denkt, daß Lina wohl in weiser Sparsamkeit einen alten Anzug zu dieser Arbeit anlezen will, wundert sich zwar, wie lange das dauert, hat aber nicht Zeit, dieser Verwunderung Ausdruck zu geben, da im selben Augenblick die Thür auffliegt und Lina erscheint. Aber nicht im Arbeitskleid, sondern im hellen Anzug, der die drallen Arme frei läßt und den ein kokettes, weißes Latzschürzchen mit reicher Stickerei vervollständigt. Die Füße stecken in roten Strümpfen und hochhackigen, schleifengeschmückten Halbschuhen, das Haar ist hochfrisirt und die Stirnlöckchen sorgfältig gebrannt.
„Aber Lina — so wollen Sie” —
„Natürlich, gnädige Frau!” kommt die schnippische Antwort, „beim Fensterputzen wird man doch von der Straße aus gesehen.”
„hm — gut. So holen Sie die Stehleiter für die oberen Scheiben!”
Das Mädchen trägt alsbald die übrigens gar nicht schwere Leiter unter unwilligem Gemurmel herbei, von dem Frau Peters nur versteht:„Männerarbeit — kein Diener vorhanden” und ähnliche Stoßseufzer. Dann wird ein Porzellaneimerchen, Schwamm und Ledertuch herbeigeholt und die Arbeit beginnt. Lina wiegt sich dabei äußerst graziös auf den Stufen der Leiter und blickt viel angelegentlicher auf die Straße hinunter als auf ihre Scheiben. Kein Wunder das, denn unten steht der schneidige Majorsbursche aus dem Hause und macht ihr höchst drollige, verliebte Gesichter. Da plötzlich ein kaisterndes, scharrendes Geräusch, die Leiter rutscht auseinander und Lina springt mit geziertem Aufschrei noch rechtzeitig herunter. Da sie auf der vierten Sprosse von unten stand, war der Sptung weder hoch noch gefährlich, aber Lina umklammert ächzend das Fensterkreuz und behauptet, sich den Faß gebrochen zu haben.
„Um Gotteswillen, wie konnte das nur geschehen! Die Leiter ist seit Jahren im Gebrauch und durchaus fest und sicher — hatten Sie sie denn eingehakt?”
„Eingehakt? Nein!”
„Welch unerhörte Lässigkeit! Und da macht man dann die Herrschaften verantwortlich, wenn Mädchen durch eigene Schuld zu Schaden kommen. Dabei ist Frau Peters niedergekniet und bewegt den verletzten Fuß hin und her.
„Thut das weh?”
„Nein, — nicht sehr!”
„So ist es also zum Glück kein Bruch. Stützen Sie sich auf mich, damit wir in Ihre Stube gelangen — ich sende dann zum Arzt.”
Lina stöhnt und humpelt zwar jämmerlich beim Gehen, kommt aber doch glücklich in ihrer Stube an. Dort legt sie sich auf's Bett, und Frau Peters selbst geht sofort zum Arzt, der zum Glück im selben Hause wohnt und unverzüglich mitkommt, den Fuß zu untersuchen. Lina vergießt Ströme von Thränen, jammert fürchterlich und fragt dazwischen den Arzt, ob sie je im Leben wieder werde ordentlich gehen können. Der lacht ihr in's Gesicht.
„Es ist eine ganz leichte Verstauchung, die unmöglich so schmerzhaft sein kann, wie Sie uns glauben machen wollen. Ruhen Sie heut den Faß und machen Umschläge von Bleiwasser, dann ist meiner Erfahrung nach morgen früh Alles wieder in Ordnung.”
Frau Peters übernimmt von Stund' an alle Obliegenheiten Lina's und trifft schnell die Vorkehrungen für das Mittagsmahl. Hoffentlich wird sich ihr lieber Mann mit dem Gebotenen zufrieden geben. Kalter Braten vom gestrigen Sonntag ist noch reichlich vorhanden, und einige Löffel Liebig's Fleischextrakt helfen bald die Suppe herstellen, die der daran gewöhnte Hausherr ungern auf dem Tische vermissen würde. Das Mädchen erhält sorgsame Pflege, Speise und Trank munden ihr vorzüglich.
Als Frau Peters gegen Abend desselben Tages in ihrem Schlafzimmer, das nach dem Hofe zu liegt, einiges ordnet, schallt durch die offenen Fenster eine Unterhaltung herein, die draußen wahrscheinlich von einem Küchenfenster zum andern geführt wird.
„Fräulein Jettchen!”
„Was denn, Fräulein Hanna?” tönt's von der andern Seite zurück.
„Haben Sie denn schon von dem Unglück gehört, das Fräulein Lina gehabt?”
„Keine Ahnung! Was ist denn passirt?”
„Sie ist beim Fensterputzen von der Leiter gestürzt — wird woll'n alt wackliges Ding gewesen sind! — und hat sich zweimal den Fuß gebrochen. Herr Linke (der Majorsbursche) hat's geseh'n.
„Herejottedoch — darum hab' ich auch Vormittag so'n jräßlichen Schrei jehört — der kam jewiß von Fräalein Lina.”
„Natürlich. Und nun denken Sie, Peterssens haben sie nicht mal gleich in's Krankenhaus schaffen lassen, sondern quacksalbern im Hause mit ihr rum.”
„Na, das ist aber doll! Ich ließ mir das nich jefallen — was wird denn aus dem armen Wurm, wenn sie den Fuß verpfuschen und der Brand zuschlägt und das janze Bein abjenommen werden muß?”
„Jräßlich! Natürlich müssen denn Peterssens zeitlebens vor ihr standesgemäß sorgen — ich denke sogar, nach dem neuen Unfallgesetz ooch vor ihre janze Familie.”
„Was so'ne Leute ooch nich schaden thut! Aber das arme Fräulein Lina dann mit ihrem einen Bein — Du lieber Jott, ihr Karl wird ihr dann wohl sitzen lassen — schrecklich, so'n Unjlück.”
„Und durch die Schuld der Herrschaft! Ja ja, unser Einer muß immer bluten”, echoet „Fräulein” Jette salbungsvoll zurück.
Frau Peters ist empört. Dennoch geht sie fürsorglich noch einmal zu Lina hinein und fragt, ob sie große Schmerzen habe. Sie lehnt sich in die Kissen, liest den neuesten Kolportageroman „Die Leiche” und erwidert, daß es allerdings noch sehr weh thäte.
Am nächsten Morgen kommt der Arzt noch einmal. Er selbst hielt es für überflüssig, aber Frau Peters hatte es dringend gewünscht. Seiner Meinung nach ist der Fuß, dessen leichte Anschwellung gefallen, jetzt gesund und Lina arbeitsfähig. Diese aber sinkt beim ersten Versuch aufzutreten, ächzend zurück und erklärt, es sei keine Menschenmöglichkeit und heut noch schlimmer als gestern.
Der Arzt sieht genau so aus, als wolle er grob werden, aber Frau Peters legt ihm, an die Hofunterhaltung von gestern denkend, beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Lassen Sie Herr Doktor — Lina mag immerhin den Fuß noch ruhen — ich mache ihre Arbeit, schon noch einige Tage selber.”
„Wie können Sie nur das Mädchen so verwöhnen,” grollt er draußen. „Ich sage Ihnen, sie ist gesund — wie elend sind Sie zuweilen und denken doch nicht daran, sich ins Bett zu legen und pflegen zu lassen.”
Sie lächelt leicht.
„Ja, lieber Doktor, wir Herrschaften dürfen uns das doch nicht erlauben!” — —
Lina liegt die ganze Woche hindurch „krank.” Täglich kommen die Mädchen aus dem Hause und erkundigen sich nach „Fräulein” Lina's Befinden. Der Majorsbursche giebt sogar einen Strauß für sie ab und fragt teilnehmend, wann denn nun der Fuß abgenommen werde?
Am Sonnabend erklärt Lina, daß es heute schon viel besser ginge, steht auf und verrichtet auch in rührender Selbstaufopferung, noch stark humpelnd, ihre Arbeit. Am Sonntag hat das Humpeln bedeutend nachgelassen, und nachmittags steht sie in vollem Ausgehstaat da — sie hat heute nämlich ihren Sonntag.
„Werden Sie denn ausgehen können, Lina?”
„Ich denke, es wird gehen, gnädige Frau. Man will doch ein bischen an die Luft nach dem langen Liegen.”
Das ist einleuchtend. —
Am nächsten Tage aber erhascht Frau Peters wieder eine Hofunterhaltung, an der sich diesmal auch Herr Linke beteiligt.
„Na, was wahr ist, muß wahr bleiben! Sie tanzen ja Alle gut, meine Damen, aber mit Fräulein Lina nimmt's keine auf. Alle Wetter, war das ein Galopp gestern mit ihr!”
Und Fräulein Hamna setzt ebenso neidlos wie gefühlvoll hinzu:
„Es is doch ein rechtes Glück, daß sie ihr den Fuß nicht haben abnehmen brauchen!”
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